Seit 80 Jahren ist Familie Wild als Schausteller
unterwegs, doch die Zeiten werden mittlerweile schwerer
VON MARIA TIMTSCHENKO
Die Schaustellererei gehört für die Familie Wild zum Leben. Opa Wild kurpelt mit 87 Jahren noch die Lostrommel, Jürgen Wild (r) kassiert am Karussell, seine Frau verkaufte gestern Abend bei der Betzensteiner Kirchweih Zuckerwatte. Fotos: Kerstin Goetzke
Die Kirwa in Betzenstein ist in vollem Gange und mitten drin ein Urgestein der Schausteilerriege - die Familie Wild. Seit über 80 Jahren verdrehen sie Kinderwelten auf ihren Karussells.
BETZENSTEIN - Ja, manchmal hat Jürgen Wild Momente, da fragt er sich: Was wäre, wenn er einen leichteren Job hätte, geregelte Urlaubstage und ein festes Gehalt?
"Das würde schon einiges erleichtern", sagt der 54-Jährige. Aber, wenn er heute in ein Büro kommt, dann muss er erst einmal die Fenster weit öffnen. Sonst fühle er sich eingesperrt, beengt. Er braucht die Freiheit.
Jürgen Wild gehört zur ältesten Schaustellerfamilie im Nürnberger Land. Seit etwa 80 Jahren betreiben die Wilds Karussells, Losbuden, Schießstände und Süße Hütten.
Väterlicherseits waren die Wilds Komödianten, kamen aus dem
Schauspielbereich und trieben sich deswegen auf Marktplätzen und Festen herum.
Mütterlicherseits waren seine Vorfahren einst Metzger in Fürth.
Doch vor einigen Jahrzehnten konnte ein Schausteller beim
Metzger seine Schulden nicht bezahlen und musste mit seiner Riesenschaukel
dafür bürgen. Der Metzger hingegen bekam das Karussell nicht mehr los und
musste fortan als Schausteller durch die Lande ziehen.
„Wenn ein Schausteller etwas kaufen will, dann ist es nichts
wert, aber wenn er etwas verkaufen, dann ist es Gold wert", sagt Jürgen
Wild. So begann eine nun fast ein Jahrhundert andauernde Familientradition.
Von April bis Oktober ziehen die Wilds von Kerwa zu Kerwa
und von Volksfest zu Volksfest. Danach beginnt die Zeit der Weihnachtsmärkte.
Dieses Wochenende sind sie auf der Kirchweih in Betzenstein.
Dort hat seine Schwester auch einen Schießstand aufgebaut und Wilds 87-jähriger
Vater verkauft Lose an der Bude. Von Freitag bis Montag, danach wird wieder
abgebaut und weitergezogen. Am Wochenende danach haben die Wilds frei. Doch an
Urlaub ist nicht zu denken. Bei der Frage schaut Jürgen Wild verwundert seine
Frau Elvira an. Urlaub haben die beiden noch nie gemacht, obwohl sie schon über
35 Jahre zusammen sind. Kein Geld, keine Zeit.
Normalerweise wohnen die Wilds während der Sommermonate in
einem Wohnwagen. Voll ausgestattet mit Küche, Bad, Schlafzimmer. Doch im
vergangenen Jahr gab es einen Kurzschluss um die Weihnachtszeit. Der Wohnwagen
brannte vollständig aus. 60 000 Euro Schaden. Unversichert.
Spenden bringen 2500 Euro
Deswegen wohnen die Wilds in dieser Saison in ihrer Wohnung
in Hersbruck. Viele aus ihrer Stadt haben damals für die Familie gesammelt.
2500 Euro kamen zusammen. Bis heute hat Jürgen Wild das Geld nicht angerührt.
Es liegt zu Hause in einer Kiste. Das Leben als Schausteller ist vor allem
durch die Bürokratie anstrengender geworden. Gema Gebühren für die Lieder, die
während der Karussell-Fahrten gespielt werden, Hygiene- und
Sicherheitsvorschriften erschweren den Job des Mittelfranken.
Vor elf Jahren fiel er beim Aufbau seines Fahrgeschäfts
hinunter und brach sich Knochen in Armen und Beinen. Seit dem bezieht er
Berufsunfähigkeitsrente: ,,In solchen Momenten denkt man natürlich, dass du in
einem anderen Job einfach krank machen könnte. Für mich bedeutet so etwas
gleich die Bedrohung der Existenz."
Seine Freude am Beruf findet Wild dann spätestens wieder,
wenn er in Engelthal auf der Kirchweih ist. Dort wird immer eine Gruppe
Kindergartenkinder zum Karussell fahren eingeladen. „Die bedanken sich immer
ganz süß bei meiner Frau. Einmal haben sie sogar ein kleines Karussell aus Holz
gebaut", erzählt Wild selig.
Vom Schausteilerdasein zu leben fällt ihm derzeit schwer. „Meine
Muttter hat immer gesagt, wir sollen zusätzlich einen ordentlichen Beruf lernen.
Deswegen bin ich Bürokaufmann, mein Sohn ist Drucker und meine Tochter
Einzelhandelsverkäuferin", erzählt Wild. Die Familie macht immer noch die
billigsten Preise auf dem Platz - eine Runde Karussell fahren kostet nur 1,50
Euro. Aber von 22 Kindern, die darauf Platz hätten, kommen vielleicht drei
Viertel.
Familien verändern
sich
„Früher gingen ganze Familien gemeinsam auf die Kerwa und
die Kinder bekamen Geld zum Fahren. Heute brechen die Familien auseinander
Außerdem haben die Kinder das ganze Jahr tolle Spielsachen und freuen sich
nicht mehr so auf die Attraktionen", meint Wild die Ursache gefunden zu
haben.
Aufhören
wird er mit seinem Job trotzdem nicht. „Vielleicht mit 100" sagt er und
freut sich. Sein Sohn will auch ins Schausteilergeschäft einsteigen. ,,Ich hab
ihm gesagt, er soll lang genug etwas normales machen und, wenn wir dann gar
nicht mehr können, dann darf er gern übernehmen."